Prof. Dr. von Lilienfeld-Toal, Lehrstuhlinhaberin Diversitätsmedizin an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, spricht im Interview über die Bedeutung der Diversitätsmedizin für die verschiedenen medizinischen Fachrichtungen, insbesondere für die Arbeitsmedizin.
Frau von Lilienfeld-Toal, können Sie uns kurz skizzieren, mit welchen Themenfeldern sich die noch junge Disziplin Diversitätsmedizin beschäftigt?
Ziel der Diversitätsmedizin ist eine Medizin, die allen Menschen gerecht wird. Das bedeutet: Sie muss individuell und auf den Kontext spezifisch zugeschnitten sein. Wir sprechen hier von kontextbewusster Medizin.
Im Zentrum steht der Erkrankungskontext – also die individuelle biologische Verfasstheit, mögliche Komorbiditäten oder das Alter. Gleichzeitig ist es entscheidend, den sozialen und lebensweltlichen Kontext zu kennen, um Therapieziele sinnvoll zu steuern. Wichtig dabei ist zu verstehen, was im jeweiligen Kontext für eine Person relevant ist. Diversitätsmedizin heißt nicht, alle Merkmale eines Menschen automatisch zu erfassen – entscheidend ist, was im jeweiligen Fall Bedeutung hat. Beispielsweise spielt die sexuelle Orientierung nur dann eine Rolle, wenn sie im Zusammenhang mit der Erkrankung, Diagnose oder Therapie relevant ist. Andernfalls muss sie beispielsweise in klinischen Studien oder Registern auch nicht erfasst und analysiert werden.
Aktuell müssen wir zunächst besser verstehen, welche Informationen wirklich notwendig sind – und welche nicht. Deswegen ist es richtig, breiter zu schauen, als wir es bislang getan haben.
Ausgehend davon, dass medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse nicht pauschal für alle gelten. Wo sehen Sie zurzeit Ihre Hauptschwerpunkte?
Die Diversitätsmedizin ist sehr interdisziplinär aufgestellt, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Soziologie, Ethik, Psychologie, den Gesundheitswissenschaften und der Medizin. Dabei treffen verschiedene Konzepte und Denkweisen aufeinander. Aus den Gender Studies kommen Konzepte, die mit medizinischen Denkmodellen erst in Einklang gebracht werden müssen.
In meiner Arbeitsgruppe am Institut für Diversitätsmedizin beschäftigen wir uns unter anderem mit der Frage, welche Informationen Patientinnen und Patienten überhaupt bereit sind preiszugeben – und wie mögliche Diskriminierungserfahrungen ihre Offenheit im Gespräch beeinflussen.
So ist es zum Beispiel für mich als Onkologin wichtig einzuschätzen, welche Fragen im Gespräch mit einem Krebspatienten oder einer Krebspatientin überhaupt gestellt werden können und welche nicht. Der Kontext bestimmt maßgeblich, welche Informationen relevant sind. Gleiches gilt auch in der Arbeitsmedizin. Hier muss abgeschätzt werden, was im Kontext einer möglichen berufsbedingten Erkrankung – neben den Arbeitsbedingungen – hinsichtlich des Lebensstils, der sozialen Stellung und möglicher Komorbitäten von Bedeutung ist.
Weiterhin beschäftigt uns die Frage, wie eine adäquate Medizin gestaltet werden kann, ohne dabei in stereotype Gruppeneinteilungen zu verfallen. Diversitätsmedizin darf nicht bedeuten, Menschen einfach in immer kleinere Untergruppen nach Merkmalen wie Hautfarbe, Geschlecht oder Einkommen einzuteilen. Vielmehr geht es darum, systematisch zu hinterfragen, welche medizinischen Standards und Normalwerte überhaupt gelten – und für wen.
Die Definition von gesund und krank erfolgt in der Medizin häufig über Laborwerte. Aber: Ist die Art und Weise, wie wir Normwerte und Referenzwerte – zum Beispiel im Blutbild – festlegen, tatsächlich richtig? Solche Werte spiegeln nicht immer die physiologischen Idealzustände wider. Wenn bestimmte Defizite sehr häufig auftreten – wie etwa der Eisenmangel bei Frauen – werden sie statistisch möglicherweise „normalisiert“ und als Referenzwert etabliert. Das kann dazu führen, dass abweichende Werte gar nicht mehr als behandlungsbedürftig erkannt werden.
Die Hypothese – die auch von anderen Hämatologen und Hämatologinnen geteilt wird – lautet: Der verbreitete Eisenmangel bei Frauen hat dazu beigetragen, dass geschlechtsspezifische Hämoglobin-Normwerte festgelegt wurden, die ein Defizit als Norm erscheinen lassen. Diese Praxis muss kritisch hinterfragt werden.
In der Studie EquiRefBlood, an der auch das IPA beteiligt ist, erforschen wir die Grundlagen für die Etablierung kontextbewusster Referenzwerte für das Blutbild (Info). Gerade für die Individualtherapie, die darauf abzielt medizinische Maßnahmen stärker auf die einzelne Person zuzuschneiden, sind solche Untersuchungen von großer Bedeutung.
Ich setze mich dafür ein, das starre Denken in binären Kategorien wie „gesund“ und „krank“ zu überwinden. Gerade in der Arbeitsmedizin zeigt sich: Gesundheit verläuft häufig entlang eines Kontinuums – sie ist kein Schwarz-Weiß-Zustand.
Welche wichtigen geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt es bei der Entstehung von Erkrankungen – zum Beispiel bei Krebserkrankungen?
Hier müssen wir Sex und Gender unterscheiden. Sex bezeichnet das biologische Geschlecht – also Chromosomen, Hormonhaushalt und körperliche Verfasstheit. Gender steht für das soziale Geschlecht, einschließlich Geschlechterrollen und -verhalten.
Beide Dimensionen beeinflussen das Erkrankungsrisiko – beispielsweise bei Krebs. So erkranken Männer häufiger an Krebs und sterben auch öfter daran, etwa an Lungenkrebs. Dieser Unterschied ist vielfach verhaltensbedingt: Männer rauchen und trinken häufiger, was mit tradierten Geschlechterrollen zusammenhängt. Das ist ein klarer Effekt des sozialen Geschlechts. Zugleich beobachten wir eine steigende Lungenkrebsrate bei Frauen – was auf verändertes Verhalten hindeutet.
Auch das biologische Geschlecht spielt eine nachweisbare Rolle: Frauen verfügen über zwei X-Chromosomen, Männer nur über eines. Auf dem X-Chromosom liegen sogenannte Tumorsuppressorgene, die vor einer Krebsentstehung schützen. Diese genetische Schutzwirkung ist auf dem Y-Chromosom nicht vorhanden. Zudem ist das weibliche Immunsystem tendenziell aktiver, was eine weitere Schutzkomponente darstellt. Beides trägt dazu bei, dass Frauen seltener an Krebs erkranken.
Gerade die Erkenntnis, dass Krankheiten sich individuell unterschiedlich zeigen, legt nahe, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren stärker durch Individualprävention anzugehen. Wie kann die Diversitätsmedizin dabei die Arbeitsmedizin unterstützen?
Das ist ein gemeinsamer Weg, bei dem wir am Anfang stehen. Am Institut für Diversitätsmedizin verstehen wir uns hier als Schnittstelle: Wir sind ein forschendes, theoretisch arbeitendes Institut mit dem Freiraum, uns vertieft mit Konzepten und Konstrukten auseinanderzusetzen – weit über das hinaus, was im medizinischen Alltag oft möglich ist.
Unser Ziel ist es, Impulse zu geben und bestehende Konzepte zu hinterfragen oder neu zu denken. Ein Beispiel ist unsere bereits erwähnte Zusammenarbeit im EquiRefBlood -Projekt – ein erster Schritt, dem viele weitere folgen sollen.
Ein weiteres Beispiel sind beruflich bedingte allergische Haut- oder Atemwegserkrankungen durch Reinigungsmittel: Hier genügt es nicht, nur die Exposition an diesem einen Arbeitsplatz zu betrachten. Es sollten auch zusätzliche Belastungen aus Zweitjobs oder der häuslichen Verwendung von Reinigungsmitteln erfasst werden. Nur wenn solche Kontexte mitgedacht werden, lässt sich eine wirksame Individualprävention umsetzen.
So kann die Diversitätsmedizin die Individualprävention um biologische, soziale und kulturelle Unterschiede erweitern und sie damit wirksamer, gerechter und praxisnäher machen. Dazu gehören personalisierte Vorsorgen, gezielte Beratung unter Berücksichtigung kultureller Hintergründe sowie Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz – etwa durch Materialien in verständlicher Sprache, visuelle Anleitungen oder muttersprachliche Schulungen.
Welche Rolle spielt die Diversitätsmedizin beim frühzeitigen Erkennen individueller prädisponierender Faktoren und Mechanismen für Erkrankungen?
Ich hoffe, dass die Diversitätsmedizin den Blick für eine umfassendere Ursachenanalyse schärft – jenseits klassischer, einheitlicher Betrachtungsweisen. Sie macht sichtbar, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen – sei es durch Genetik, Geschlecht, Alter, Lebensumfeld oder Beruf. Genau diese Unterschiede helfen uns, Risiken für Erkrankungen früher zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. Sie erweitert also den Blick der Medizin, damit wir individueller und vorausschauender handeln können.
Ein Beispiel sind geschlechtsspezifische Unterschiede in der Onkologie: Wir sehen, dass Frauen während einer Krebstherapie oftmals deutlich stärkere Nebenwirkungen entwickeln als Männer. Ein Teil dieser Unterschiede hängt mit dem weiblichen Hormonhaushalt und Metabolismus zusammen. Doch es gibt auch Effekte, die sich nicht allein durch das Geschlecht erklären lassen, sondern ein Dosiseffekt sind, der sich bei Körpergröße und -gewicht auswirkt. Wenn eine 1,60 m große, 60 kg schwere Person dieselbe Medikamentendosis erhält wie ein 2 m großer, 100 kg schwerer Mensch, entstehen unterschiedliche Wirkspiegel im Körper. Das kann zu stärkeren Nebenwirkungen führen – unabhängig vom Geschlecht. Solche Effekte werden bislang oft fälschlich als „geschlechtsspezifisch“ interpretiert. Die Diversitätsmedizin kann hier helfen, genauer hinzusehen und differenziertere Erklärungen zu finden.
Meine Idealvorstellung ist, dass die Diversitätsmedizin in 50 Jahren überflüssig wird, weil die Medizin insgesamt kontextbewusster geworden ist und selbstverständlich Alltag, Beruf, Umfeld und Lebensbedingungen berücksichtigt. Bis dahin möchte die Diversitätsmedizin Impulse geben, die in die einzelnen Fachrichtungen der Medizin einfließen und dort umgesetzt werden – auch in der Arbeitsmedizin.
Sex und Gender sollten bei der Ursachenforschung immer mitgedacht werden und es ist klar, dass geschlechtsspezifische Medizin nicht als „Frauengesundheit“ misszuverstehen ist. Erkenntnisse der diversitätsmedizinischen und geschlechtersensiblen Forschung hinterfragen vermeintliche Gewissheiten und kommen letztlich allen Menschen zugute.
In welchen Bereichen besteht besonders hoher Forschungsbedarf, um Diversität stärker in die Prävention und berufliche Gesundheitsversorgung zu integrieren? Und wo sehen Sie spezifisch den größten Bedarf an geschlechtssensibler Medizin?
Gerade in der geschlechtsspezifischen Medizin besteht trotz vorhandener Evidenz weiterhin erheblicher Handlungsbedarf. Es geht weniger darum, völlig neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern vielmehr darum, bestehendes Wissen in die medizinische Praxis zu überführen.
Ein Beispiel ist die Osteoporose bei Männern: Wir wissen seit Langem, dass auch Männer betroffen sind, trotzdem wird die Erkrankung bei ihnen nach wie vor deutlich seltener diagnostiziert. Hier besteht ein klassisches Problem der Unterdiagnose.
Ein weiteres Beispiel ist der Herzinfarkt bei Frauen: Seit über 20 Jahren ist bekannt, dass Frauen häufig andere Symptome zeigen als Männer – zum Beispiel Übelkeit, Rückenschmerzen oder Kurzatmigkeit anstelle des „klassischen“ Brustschmerzes. Dennoch werden diese Unterschiede in der Praxis häufig übersehen, was zu späterer Diagnosestellung und schlechteren Prognosen führt.
Das zeigt: Wir brauchen mehr Ursachenforschung – insbesondere darüber, warum gut belegte Erkenntnisse nicht umgesetzt werden. Welche systemischen Barrieren verhindern den Transfer in die Versorgungspraxis? Wie müssen Leitlinien, Fortbildung oder Versorgungsstrukturen angepasst werden?
Die kontextbewusste Medizin unterstützt die personalisierte Therapie, indem sie deren biologische Präzision um die Lebensumstände, das soziale Umfeld und die Arbeitsrealität ergänzt und so eine wirksame Umsetzung im Alltag ermöglicht. Dieser Aspekt muss in Zukunft weiter ausgebaut werden.
Auch im Bereich der Prävention – insbesondere im arbeitsmedizinischen Kontext – muss Diversität stärker berücksichtigt werden: etwa durch geschlechtersensible Risikobewertung oder den Einbezug sozialer Lebenslagen, um die Individualprävention weiter zu optimieren.
Das Interview führten:
Prof. Dr. Thomas Brüning, Prof. Dr. Julia Krabbe und Dr. Monika Zaghow.
Blutwerte liefern wichtige Hinweise für Gesundheit und Krankheit. Doch bisherige Referenzwerte berücksichtigen nicht immer die Vielfalt der Bevölkerung.
Die Studie EquiRefBlood untersucht, wie unterschiedliche Faktoren – unter anderem beim Eisenstoffwechsel – die Interpretation von Blutwerten beeinflussen. Ziel ist es, Referenzbereiche zu entwickeln, die Krankheiten sicher anzeigen und alle Bevölkerungsgruppen berücksichtigen. Gerade beim Eisenstoffwechsel gibt es beispielsweise Hinweise, dass die heute vorliegenden geschlechtsbezogenen Referenzwerte zu einer Unterdiagnose der Erkrankung bei Frauen führen.
Aktuell läuft die Untersuchung an Standorten in Bochum und Köln mit gesunden Teilnehmenden ohne relevante Vorerkrankungen.